Inhalt

Im Zuge seiner Arbeit an "Shoah" in den 70er Jahren hat Claude Lanzmann ein langes und beeindruckendes Gespräch mit dem Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein (1905-1989) geführt.

Im Zentrum stand Murmelsteins ambivalente Rolle als hochrangiger jüdischer Funktionär der von Eichmann kontrollierten Israelitischen Kultusgemeinde Wien in der NS-Zeit und als "Judenältester" des Ghettos Theresienstadt. Bis heute ist umstritten, inwieweit er mit den Nationalsozialisten kollaborierte oder kooperieren musste.

Claude Lanzmann versucht mit der Veröffentlichung des Gesprächs den 1989 verstorbenen Murmelstein zu rehabilitieren.

Der Film feierte beim Filmfestival in Cannes im Mai Weltpremiere.
Österreich-Premiere im Rahmen der VIENNALE am 27.10.2013.

Credits

Drehbuch, RegieClaude Lanzmann
KameraWilliam Lubtchansky, Caroline Champetier (A.F.C.)
SchnittChantal Hymans
TonAntoine Bonfanti, Manuel Grandpierre, Alexander Koller
RegieassistenzLaura Koeppel
ProduktionsleitungThibault Mattei
PostproduktionsleitungChristina Crassaris
ProduzentenDavid Frenkel, Jean Labadie, Danny Krausz

Eine Produktion von SYNECDOCHE – LE PACTE – DOR FILM – LES FILMS ALEPH

in Koproduktion mit FRANCE 3 CINEMA

in Zusammenarbeit mit CANAL +, FRANCE TELEVISIONS, CINE +, ORF (FILM/FERNSEH-ABKOMMEN), CENTRE NATIONAL DU CINEMA ET DE L’IMAGE ANIMEE

mit Unterstützung von LA REGION ILE-DE-FRANCE, ÖSTERREICHISCHES FILMINSTITUT, FILMFONDS WIEN, LA FONDATION POUR LA MEMOIRE DE LA SHOAH

2013 - Frankreich/Österreich – 218 Minuten - 1.85 - 5.1

Links

United States Holocaust Memorial Museum

Dor Film

filmladen

Gespräch mit Claude LANZMANN

Zu welchem Zeitpunkt haben Sie darüber nachgedacht, einen ganzen Film der umstrittenen Figur des Benjamin Murmelstein, dem ehemaligen Vorsitzenden des Judenrates in Theresienstadt (CZ), zu widmen? Es gibt viele Aufzeichnungen mit ihm von den Dreharbeiten zu SHOAH 1975 in Rom. Warum haben Sie das damals nicht verwendet?
SHOAH ist ein Film in Erzählform, der allgemeine Ton ist von einer schrecklichen Tragik. Wenn man Benjamin Murmelstein zuhört, merkt man, dass das nicht zu ihm passt. Er ist von einem anderen Schlag. Er war aber der erste Protagonist, mit dem ich gedreht habe. Es ist mir damals sehr schwer gefallen, einen Termin mit ihm zu bekommen. Dass es mir gelang, verdanke ich meiner damaligen Frau, der deutschen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff. Sie, von der man behauptete, sie sei die schönste Frau Deutschlands ist diejenige, die ihn schließlich eroberte. Wir waren damals von Jerusalem nach Rom gekommen, mit einem großartigen Film- und Tonequipment, alles sehr aufwendig. Leider wurde kurz nach unserer Ankunft unser Minibus samt Equipment von einer italienischen Bande ausgeraubt. Wir waren daher gezwungen uns aus Paris Material nachschicken zu lassen. Trotz dieser Schwierigkeiten konnte ich eine Woche mit Murmelstein drehen.

Die Dreharbeiten zu SHOAH waren aufgrund der Konstruktion und Struktur des Films bereits dermaßen kompliziert, dass ich die Murmelstein-Gespräche nicht einbauen konnte, ohne den Film auf 20 Stunden zu verlängern. Ich habe kurzerhand beschlossen mich der Interviews zu einem späteren Zeitpunkt anzunehmen. Die schwierige Frage nach der Rolle der jüdischen Räte war trotzdem auch schon in SHOAH präsent. Es mag etwas paradox erscheinen, dass ich mit Murmelstein den letzten lebenden Judenrat zur Hand gehabt hätte, um dann des Films wegen für SHOAH den toten Präsidenten Adam Czerniaków aus Warschau zu verwenden. Im Film verkörpert Raül Hilberg Czerniaków indem er dessen Tagebuch kommentiert, welches Czerniaków bis zu seinem Suizid 1942 täglich geführt hatte. Bevor er auf mein Anraten das Tagebuch las, war er streng gegen alle angesehenen Juden die gezwungen waren mit den Nazis zu kooperieren. Es war nicht einfach, Hilberg von der zwiespältigen Rolle der Judenräte zu überzeugen, ich konnte seinen Blick auf Menschen wie Murmelstein jedoch grundlegend ändern.

Was hat Sie dazu bewogen, Sich heute wieder dem besonders schmerzhaften Aspekt der Vernichtung der europäischen Juden zu widmen?
Ich habe mein ganzes Material im Holocaust Memorial Museum in Washington gelagert und es wurde damals alles digitalisiert. Die Filmsequenzen wurden als Rohmaterial behandelt, das nur Forschern zugänglich war. Vor fünf oder sechs Jahren besuchte ich in Wien eine Vorstellung in der ein Ausschnitt meines Interviews mit Benjamin Murmelstein gezeigt wurde. Das hat mich total schockiert. Ich hatte das Gefühl bestohlen worden zu sein. Ich sagte mir: „Das bin alles ich!“ Und dort habe ich entschieden mich dahinter zu klemmen und einen Film aus den Fragmenten zu formen. Richard Brody, der einen Teil des ungeschnittenen Interviews gesehen hatte, schrieb in einem Artikel im The New Yorker: „Es ist interessant, aber damit es Kunst wird, muss es Lanzmann machen.“ Da habe ich beschlossen mein eigenes cineastisches Werk zu machen, ungeachtet der beträchtlichen Schwierigkeiten, auf die ich mich einstellen musste.

„Der Letzte der Ungerechten“, so hat sich Murmelstein im Film selbst bezeichnet. Ein Ungerechter, ein Verräter, so sehen viele Leute auch heute noch die Vorsitzenden der Judenräte. Ihre Darstellung ist positiver, obwohl Sie ihm manchmal sehr schwierige Fragen stellen. Vor allem wenn Sie ihn nach seiner Machtgier befragen. Sie wirken eher wie jemand, der Murmelstein im Zuge des Gesprächs mit Wohlwollen begegnet. Was hat Sie überzeugt, dass seine Vorgehensweise aufrichtig war?
Echte Kollaborateure – damit meine ich Menschen, die die Naziideologie teilen – gab es unter den Juden nicht. Die einzige Ausnahme bildet vielleicht eine kleine Gruppe aus Warschau, die „die Dreizehn“ genannt wurde (weil sie Lesznostrasse 13 wohnten). Ihr Anführer, Abraham Gancwajch war ein Verräter, der die Deutschen informierte. Ein Einzelfall, denn diejenigen, die als Judenräte berufen wurden und sich weigerten, wurden zum Tode verurteilt. Sie versuchten etwas zu retten und glaubten an die deutsche Rationalität, da sie wussten wie wichtig die jüdischen Arbeitskräfte für die Deutschen waren. Sie haben sich getäuscht.

Murmelstein ist ein besonderer Fall. Ich war über seine Schlagfertigkeit, sein Wissen und seine Intelligenz erstaunt. Vor allem aber gab er mir das Gefühl, dass er aufrichtig spricht. Oft sagte er: „Wir hatten keine Zeit zum Nachdenken.“ Unter den Nazis galt es ständig, neue Befehle auszuführen, einer unmöglicher als der andere. Murmelstein gestand alles ganz am Ende von sehr langen Interviewstunden: „Wir haben es nicht gesehen, wir haben dem nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet...“ Selbst er, der sich über die Grausamkeit und die Täuschungsmanöver der Nazis keine Illusionen machte. Ich glaube er lügt auch nicht, wenn er sagt, er habe von den Gaskammern nichts gewusst. Zwar hatten alle Angst vor den Deportationen gen Osten, aber keiner konnte sich die Realität des Todes in den Gaskammern vorstellen. Birkenau war für sie eine Art Replik von Theresienstadt, bloß härter. Filip Müller bringt es in SHOAH auf den Punkt: „Wer leben will, ist dazu verdammt, zu hoffen.“ Sie wollten alle leben. Intellektuelle wie Hannah Arendt oder Gershom Scholem, den Sie sehr gut kannten, haben über die Vorsitzenden der Judenräte ein sehr hartes Urteil gefällt. Für Scholem hätte Murmelstein verdient, gehängt zu werden. Was erklärt Ihrer Meinung nach die Härte dieser Ansicht? Ich kannte Scholem sehr gut, er war mein Trauzeuge bei der Hochzeit mit Angelika Schrobsdorff in Jerusalem. Scholem war ein sanfter Mann, er konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun, außer vielleicht sie zwischen zwei Seiten eines seiner wertvollen Talmuds klemmen, die seine überwältigende Bibliothek zierten. Als Eichmann vom Jerusalemer Tribunal zum Tod durch Erhängung verurteilt worden war, sprach er sich gegen die Vollstreckung der Strafe aus, während er sie hingegen für Murmelstein forderte. Murmelstein war zu dem Zeitpunkt bereits von der tschechischen Justiz von allen Anklagepunkten, die gewisse Juden aus Theresienstadt gegen ihn vorgebracht hatten, freigesprochen worden. Dies veranlasste Murmelstein zu der sarkastischen Aussage: „Er ist ein großer Gelehrter, aber er ist ein wenig pingelig, wenn es um Erhängung geht.“ Murmelstein saß freiwillig 18 Monate im Gefängnis. Die Richter ordneten schließlich seine Freilassung an, weil keine seriöse Anklage aufgrund der Vorwürfe gegen ihn gemacht werden konnte. Eigentlich war er das genaue Gegenteil eines Kollaborateurs. Er sagt von sich selbst, dass er eine große Klappe hatte und dass er knallhart war. Das war auch seine Art den Deutschen die Stirn zu bieten.

Eine der großen historischen Offenbarungen des Films ist das neue Licht, das er auf die Person Eichmann wirft. Er wirkte ganz und gar nicht wie der berechnende Bürokrat, Inkarnation der „Banalität des Bösen“, von der die Philosophin Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Jerusalemer Prozess gesprochen hatte. Eher wie ein echter „Dämon“, fanatisch, antisemitisch, gewalttätig, korrupt... War das für Sie eine richtige Entdeckung?
Ja. Ich habe den Eichmann Prozess 1961 nicht besonders verfolgt, aber was ich in der Folge der Arbeiten an SHOAH verstanden habe war, dass es ein fehlerhafter Prozess war. Ein Prozess von Ignoranten, wo die Staatsanwälte sogar die Orte verwechselten. Nicht einmal die direkte Teilnahme Eichmanns an der Reichskristallnacht konnte bewiesen werden. Der Prozess war von David Ben Gurion gefordert worden. Es war eine Art Auftakt für die Rechtfertigung der Gründung des Staates Israel. Insgesamt war es ein schmutziger Prozess. Und Hannah Arendt, in die USA emigriert, kannte all das nur von weitem. Sie hat viel Absurdes darüber erzählt. Die Banalität des Bösen, wie es Paul Attanasio einmal in der Washington Post schrieb, als er von SHOAH erfuhr, war oft nichts anderes als die Banalität der Schlüsse, die Frau Arendt zog.

Ungeachtet Ihrer Nachsicht mit Murmelstein ist er eine manchmal sehr problematische moralische Figur, besonders wenn er die „Abenteuerlust“ erwähnt, die ihn dazu gebracht habe, seine Aufgaben in Theresienstadt wahrzunehmen. Kann man in DER LETZTE DER UNGERECHTEN die umgekehrte Abbildung von dem sehen, was Sie in SOBIBOR, 14. OKTOBER 1943, 16 UHR – einem Film über jüdischen Heldenmut - hervorbrachten?
Ich finde es ehrlich gesagt gut, dass Murmelstein die „Abenteuerlust“ gestand. Indem er enorme Risiken auf sich genommen hat, hat er es geschafft, 120 000 österreichische Juden aus den Fängen ihrer Verfolger zu befreien. Alles was er erzählt ist eine Lektion in Geschichte. In SOBIBOR waren diejenigen die revoltierten und die Aufseher im Lager töteten nur Soldaten oder jüdische Offiziere der Roten Armee. Es waren also alle Professionelle die an Waffen, Gewalt und Macht gewöhnt waren. Letztlich haben es nur 50 von ihnen geschafft sich tatsächlich zu erheben. Die restlichen 1250 sind in der Gaskammer gestorben. In Wahrheit gab es keine Gelegenheit zur Revolte. Meiner Meinung nach ist eine der Lektionen in DER LETZTE DER UNGERECHTEN, dass es ab einem gewissen Zeitpunkt keine andere Möglichkeit mehr gibt als einem Befehl Folge zu leisten und zu gehorchen. Jeglicher Widerstand wird unmöglich. Benjamin Murmelstein kämpfte trotzdem bis zuletzt gegen die Mörder. Wie er sagte, wollten die Nazis aus ihm eine Marionette machen, aber diese Marionette hatte gelernt, die Fäden selbst zu ziehen.

Was genau war das Ziel der NS-Propaganda mit der Existenz eines „Vorzeigeghettos“ wie Theresienstadt? Ging es nur darum, die internationalen Behörden zu täuschen, das Rote Kreuz und die Alliierten, oder gab es auch eine zweideutige Botschaft an das deutsche Volk?
Ich glaube nicht, dass sich die Propaganda so sehr an die Deutschen richtete. Das Prestigeprojekt war in erster Linie für das Ausland bestimmt. Die Nazis haben immer versucht, alles geheim zu halten. Vor allem als die Amerikaner noch nicht in den Krieg eingetreten waren, versuchten sie all ihre Unternehmungen gegen die Juden zu tarnen. Als die ersten Deportationen (nach Nisko beispielsweise) stattfanden, versuchten die Deutschen es so darzustellen als würden sich die Juden selbst deportieren. Theresienstadt war nur scheinbar human. Aus dem Film geht hervor, dass es auch ein Konzentrationslager der übelsten Sorte war. Ein Ort der Erpressung, des Betrugs und nackter Gewalt. Für mich war Theresienstadt der Gipfel der Grausamkeit und Perversion.

Sie erwähnen im Eingang des Films die extremen Schwierigkeiten, die es während der Verwirklichung gab. Wie groß waren sie?
Es waren vor allem konzeptionelle Schwierigkeiten. Ich musste alles wieder beleben. Aber es gab natürlich auch Schwierigkeiten wegen des Themas. Man sieht, dass diese Männer keine Heiligen waren. Ich mag es, dass sich Murmelstein als Sancho Pansa bezeichnet, in Bezug auf den Wahn und die „Donquichotterie“ der Anderen. Er war ein Realist, der die Logik der Nazis sehr gut vorhersehen konnte. Er vertraute ihnen nie. Murmelstein sagt, als Ergänzung zu den Aussagen von Isaac Bashevis Singer: „Es waren alles Märtyrer, aber nicht alle Märtyrer sind Heilige.“ Im Film sieht man nicht nur die Gespräche von 1975 aus Rom. Ich habe außerdem zwei Monate in Wien, Polen, Israel und in Theresienstadt in der Tschechischen Republik gedreht. Es war eine Reihe von technisch und filmisch sehr schwierigen sowie moralisch anspruchsvollen Dreharbeiten.

Ist dieser Film für Sie ein Blick auf einen Mann, auf die „Last der Seele“, oder muss man ihn im weiteren Sinne als Rehabilitierung, der Rolle die die Judenräte während des Krieges innehatten, sehen?
Beides zugleich. Es ist ein Film über einen absolut außergewöhnlichen Mann. Ein großer Gelehrter, ein Spezialist der Mythologie wie der Wissenschaft, ungemein intelligent, voller Humor und von äußerster Aufrichtigkeit mir gegenüber. Aber die Probleme mit denen er konfrontiert war, waren ident mit denen der anderen Vorsitzenden der Judenräte in Osteuropa. Manche unter ihnen hatten ein übergroßes Ego, das ist nicht zu leugnen. Sie waren erfreut darüber, Macht zu haben, selbst wenn sie diese von den Deutschen bekamen. Der Fall Murmelstein ist trotzdem besonders, weil das „Vorzeigeghetto“ Theresienstadt absolut einzigartig war: Es musste der Öffentlichkeit präsentiert werden und das wurde es auch.

Dieser Umstand geht ganz klar aus einem meiner früheren Filme EIN LEBENDER GEHT VORBEI hervor. Der Film beschreibt den Besuch des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Theresienstadt im Juni 1944 nach der von Murmelstein umgesetzten „Verschönerungsaktion“ des Ghettos. Obwohl in seinem Prozess in Israel freigesprochen, wurde Rudolf Kastner nach dem Krieg 1957 von einer improvisierten Bürgerwehr auf der Straße erschossen. Benjamin Murmelstein selbst hat es nach dem Krieg nie mehr gewagt einen Fuß dorthin zu setzen. Wenn der Film ausgestrahlt wird, wird er unweigerlich die empfindliche Debatte über die Rolle der Judenräte und ihr Maß an Kompromittierung wiederbeleben. Mit welchen Reaktionen rechnen Sie? Murmelstein hat mir gesagt, dass er nicht die Nerven für einen zweiten Prozess gehabt hätte. Ich verstehe das vollkommen. Der tschechische Prozess war schon unglaublich schwierig. Das waren keine sanften Richter, wenn man sich ansieht wie viele Menschen zum Tod durch Erhängung im Gefängnis in Pankrác verurteilt wurden. Allerdings bin ich nicht sicher, ob der Film so viele Kontroversen auslösen wird. Er zeigt deutlich, dass es nicht die Juden waren, die ihre Brüder ermordeten. Man sieht, wer die wahren Mörder waren. Ich zweifle nicht daran, dass das Kinopublikum danach für Murmelstein mehr Verständnis und Empathie empfinden wird. Das würde mir gefallen.

CLAUDE LANZMANN – Biographie

Geboren in Paris am 27. November 1925, war Claude Lanzmann 1943 einer der Organisatoren der Résistance am Lycée Blaise Pascal in Clermont-Ferrand. Er nahm an der städtischen Untergrundbewegung und den Kämpfen der Maquis d' Auvergne teil.

Als Lektor an der Berliner Universität lernt er während der Berlin-Blockade 1952 Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir kennen. Seither wirkt er immer wieder an der Zeitschrift „Les Temps modernes“ mit. Inzwischen ist er selbst der Herausgeber. Bis 1970 arbeitete er nicht nur für die Zeitschrift, sondern er schrieb auch zahlreiche Artikel und Reportagen, in denen er immer wieder seine Loyalität zu Israel, wohin er erstmals im Jahr 1952 reiste, und gleichzeitig seine ablehnende Haltung gegenüber der Kolonialisierung ausdrückt. Als Unterzeichner des Manifests der 121, die mit ihrer Forderung nach Dienstpflichtverweigerung die Unterdrückung in Algerien verurteilten, war er einer der zehn Angeklagten. Daraufhin leitete er die Spezialausgabe der „Temps modernes“, dem „israelisch-arabischen Konflikt“ gewidmet, in der zum ersten Mal Araber und Israeliten gemeinsam die Stimme erhoben.

1970 widmete sich Claude Lanzmann ausschließlich dem Kino: Er macht den Film WARUM ISRAEL. Zum Teil um seinen alten Kameraden aus den antikolonialen Kämpfen klar zu machen wie man während man die Unabhängigkeit Algeriens fordert, gleichzeitig das Überleben Israels fordern kann. Die Premiere fand am 7. Oktober 1973 auf dem New York Film Festival statt, wenige Stunden nach dem Ausbruch des Yom-Kippur-Krieges.

Claude Lanzmann begann im Sommer 1974 an SHOAH zu arbeiten. Die Realisierung des Films hat ihn ganze zwölf Jahre beschäftigt. Mit seiner Veröffentlichung 1985, wurde der Film zu einem großen historischen und kinematographischen Ereignis.

Nach WARUM ISRAEL und SHOAH, ist TSAHAL der israelischen Verteidigungsarmee gewidmet. Dieser Film über die Überwindung der Angst durch Mut, über die Waffen und über die Wiederaneignung der Macht und der Gewalt durch die Juden ist der letzte Teil der Trilogie von Claude Lanzmann, der die Idee für dieses Gesamtwerk schon lange in sich trug.

EIN LEBENDER GEHT VORBEI (1997) entstand nach einer Unterhaltung mit Maurice Rossel 1979 im Zuge der Dreharbeiten von SHOAH. Es handelt sich dabei um ein einzigartiges Dokument aus den Chroniken des Zweiten Weltkriegs. Maurice Rossel war der einzige Delegierte des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, der 1943 in Auschwitz war. Im Juni 1944 inspizierte er auch das „Vorzeigelager“ Theresienstadt.

SOBIBOR, 14. OKTOBER 1943, 16 UHR, der fünfte Film von Claude Lanzmann, lief im Rahmen des offiziellen Programms des Filmfestival von Cannes 2001 (außer Konkurrenz). Claude Lanzmann veröffentlichte 2009 "Der patagonische Hase". Ein brillanter literarischer Text über sein Leben, seine Überfahrt im 20. Jahrhundert, Bestseller in Frankreich, in Deutschland und den Vereinigten Staaten. 2012 veröffentlichte er "La Tombe du Divin Plongeur" (Das Grab des göttlichen Tauchers).

Er ist mit der Médaille de la Résistance ausgezeichnet, Großoffizier der Ehrenlegion und Großoffizier des Nationalen Verdienstordens. Am 14. Februar 2013 wurde er auf der Berlinale für sein Lebenswerk mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet.